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Der knallorange Kastenwagen - Aus der Praxis

Aktualisiert: 6. Juli




Frau M. (Name der Patientin verändert) kommt zu mir in die Praxis und wünscht Klarheit bei einer für sie belastenden Situation, die sie wie folgt schildert:


Seit vielen Wochen stehe vis á vis vor ihrem Fenster auf der anderen Straßenseite ein knalloranger Kastenwagen, ein sehr alter VW Bus mit Oldtimerstatus.

Ein altes Schätzchen sozusagen, alt und auffällig und nicht mehr ganz chick.


Frau M. gibt an, dass sie den Halter kenne, es sei der Freund ihres Sohnes.

Dieser habe mit viel Einsatz und entsprechendem Zeitaufwand dieses sehr auffällige Mobil ausgebaut und in jahrelanger Feinarbeit immer wieder an eigene Wünsche und Bedürfnisse angepasst. Es sei ein absolutes Liebhaberteil!


Er sei um die halbe Welt damit gereist und auch ihr Sohn habe schon einige Reisen in diesem Van mit seinem Freund unternommen.


Nun steht dieses symbolträchtige, etwas in die Jahre gekommene Gefährt, in ihrer

"ach so guten Wohngegend".....


Vor ein paar Tagen dann, habe sich ihre Schwester bei ihr gemeldet, und berichtet, dass beim Hunde- Gassi -gehen sich die Nachbarn beschweren würden:


"wem denn dieser Schandfleck gehören würde",

"der stehe ja schon seit Wochen tatsächlich einfach so, (auf einem extra für PKW‘ s vorgesehenen Parkplatz) rum",

"schön sei er ja nicht"!

"auch versperre er die Sicht auf den Stadtpark"


Und auch ihre Schwester war der Meinung, dass sich ihr kein schöner Anblick bot, so nah vor ihrem schön dekorierten Fenster und außerdem würde der alte Kastenwagen auch noch einen Parkplatz wegnehmen, die seien eh schon rar gesät.


Frau M. fühlte sich zusehends unwohl, einerseits, weil sie sich von ihrer Schwester etwas verraten fühlte, andererseits, war sie wütend und verärgert über die selbstgerechten Menschen in ihrer Nachbarschaft, die sich auch nicht immer ganz "störfrei" verhielten.


Und dann war da noch ihr Sohn, dem sie dann auch mitteilte:


Das knallorange Mobil muss weg! Finde eine Lösung!


Nun war er auch verärgert und auch verwundert, hatte er mit antiquierten Normen und nicht nachvollziehbaren gesellschaftlichen Strukturen eh nicht so viel am Hut.


Er war ja der eher der Weltenbummler, der Individualist, der Freiheitsliebende, der "Draußen-Typ.





Aber am meisten ärgere sie sich über sich selbst!


Sie verspüre Druck von allen Beteiligten und gab an, dem nicht standhalten zu können.

"Es", wie sie es nannte, ziehe regelrecht an ihr.


Nach einer ausführlichen Anamnese und der Erstellung des psychopathologischen Befundes, der unauffällig war, erarbeitete ich mit Frau M. im Rahmen der Psychoedukation wie Stress entsteht und welche Auswirkungen Stress auf der körperlichen, kognitiven, emotionalen und Verhaltensebne hat.


Ich erklärte: Hätten Sie jemanden vor 100 Jahren gefragt, ob er gestresst sei, hätten Sie wohl nur Fragezeichen im Gesicht des Gegenüber gesehen.

Warum?

Weil dieses Wort zu dieser Zeit schlichterdings nicht gebräuchlich war.


Zum ersten Mal wurde es im frühen 20. Jahrhundert im Bereich der Materialwissenschaften eingesetzt.

Als Stress wurde hier Folgendes bezeichnet:


„physikalische Kräfte bzw. Belastungen, die auf feste Körper einwirken und diese unter Umständen verformen“)

Gelassen und sicher im Stress, Kaluza, 7. Auflage, 2018



Kleines Beispiel:

Wenn ich einen Gummiball zusammendrücke, dann verliert er seine Kugelform.

Dieses Grundprinzip, nach dem ein Reiz von außen eine Reaktion nach sich zieht, wurde schließlich auch auf den menschlichen Körper übernommen.


Stress und das Gehirn


Eine sehr wichtige Hirnregion für unser Stresserleben ist die Amygdala, das Angstzentrum unseres Gehirns.


Sie spielt eine große Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen.


Hier ist vor allem die Entstehung von Wut und Angstgefühlen verankert.


Die Amygdala wird aktiv, sobald unser Gehirn eine Situation als neu oder potenziell gefährlich interpretiert. Als Folge wird das Stresshormon Cortisol freigesetzt.

Unser Körper wird in Alarmbereitschaft versetzt.

Der Blutdruck steigt, die Atmung wird schneller und die Muskeln spannen sich an.

Unser Körper ist bereit zu handeln. So können wir schneller auf potenzielle Gefahren reagieren. Wir sind aufmerksamer und leistungsfähiger. Sobald die Situation vorbei ist, entspannt sich unser Körper wieder. Diese Erholungsphase ist wichtig, um gesund zu bleiben. Der Körper kann sich regenerieren und neue Kraft schöpfen.


Anhaltender Stress führt dazu, dass sich bestimmte Zellen in der Amygdala stärker vermehren und die neuronalen Verbindungen zu anderen Hirnregionen gestärkt werden.

Die Amygdala wird dann schneller überstimuliert.


Wir fühlen uns überfordert und hilflos, werden nervös und reizbar. Immer mehr Erinnerungen werden so mit Angst und Gefahr verbunden.

Dadurch bleibt der Cortisolspiegel konstant hoch.

Wenn der Körper dauerhaft auf Gefahr eingestellt ist, hemmt das Gehirn Funktionen, die bei akuter Gefahr nicht notwendig sind. Die Folgen können Herz-Kreislauf-Probleme, Schlafstörungen, Appetitverlust, Verdauungsprobleme und eine nachlassende Libido sein.




Stressverschärfende Denkmuster


Katastrophisierung

Die Neigung, die schlimmsten möglichen Szenarien zu erwarten und alltägliche Probleme als Katastrophe wahrzunehmen.

Diese Denkweise kann zu starker Angst und Handlungsunfähigkeit führen.


Schwarz-Weiß-Denken

Die Tendenz, Situationen oder Menschen in extremen Kategorien zu sehen, ohne die Zwischenbereiche zu berücksichtigen.

Dies kann zu rigiden Denkweisen führen.


Übergeneralisieren

Die Verallgemeinerung aus einer einzelnen negativen Erfahrung heraus auf alle zukünftige Ereignisse.

Dies führt zu einem pessimistischen Weltbild.

"Es ist einmal schief gelaufen, es wird immer schief gehen"


Selektive Abstraktion

Fokussierung auf ein einziges negatives Detail und das Ausblenden der positiven Aspekte

z.B. Eine Person, die nach einem Vortrag nur die eine kritische Bemerkung wahrnimmt und alle positiven Rückmeldungen ignoriert.


Personalisierung

Die Tendenz, alles auf sich selbst zu beziehen und sich für die Ereignisse verantwortlich zu führen, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen.


Anhand einer Matrix identifizierten und analysierten wir die individuellen Stressauslöser von Frau M. und dadurch konnte die Klientin schon nach kurzer Zeit ihre Muster erkennen und stressverschärfende Kognitionen entlarven.


Die Arbeitsweise


Weiterhin arbeite ich mit Frau M. integrativ:


Zuerst bearbeiteten wir vorherrschende Gefühle wie Ärger, Hilflosigkeit und Traurigkeit mit der MET Klopftherapie, wodurch sich die belastenden, vordergründigen Gefühle sehr bald auflösten.


Wir arbeiteten an den nicht dienlichen Gedankenmuster von Frau M. indem die Klientin sich dieser bewusst wurde und konnten dann positive, realistische Gedanken fördern.


Mit der progressiven Muskelentspannung lernte Frau M. wie sie sich mit etwas Übung schneller in einen Entspannungszustand bringen konnte.

Dieses Gefühl für den Unterschied zwischen An- und Entspannung der Muskulatur soll Frau M. ermöglichen, Entspannung ganz bewusst herbeizuführen.


In einer hypnotischen Tiefenentspannung konnte Frau M. weitere tiefgreifende Entspannungsmomente erleben.





Fazit:

Manchmal braucht es Kraft und Mut um sich unsinnigen Maßstäben von Außen nicht zu beugen und manchmal braucht es einen knallorangen Kastenwagen der symbolträchtig vor der Nase steht um dies zu erkennen.

 

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